„Wer ist unsere Zukunft? Es sind unsere Kinder und Jugendlichen auf den Schulen, die echte Vorbilder brauchen.“

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6.11.2011. Gedenkansprache am Grab des vor 70 Jahren ermordeten Siegeners Walter Krämer, dem Schlosser, linken Landespolitiker und Lebensretter


von Hans-Walter Klein


„Wer ist unsere Zukunft? Es sind unsere Kinder und Jugendlichen auf den Schulen, die echte Vorbilder brauchen.“

Mit dieser Feststellung beendete der damalige Bürgermeister Rudolf Biermann, CDU, am 6. November 2008, heute vor genau drei Jahren, seine Rede in der vollbesetzten Kreuztaler Stadthalle. Der Stadtrat hatte sich wegen des großen Bürgerinteresses am spektakulärsten Tagesordnungspunkt dort versammelt, vor der Tür standen Übertragungswagen für Radio- und Fernsehliveberichte.  

Sie alle kennen diesen TO-Punkt und den Ausgang der Ratsdebatte: Auch mit Stimmen aus den bürgerlichen Parteien sprach sich die Mehrheit der gewählten Volksvertreter dafür aus, das städtische Gymnasium vom Namen des in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilten Friedrich Flick zu befreien.

Flickens Fritz aus Ernsdorf, NS-Finanzier und Mitglied des „Freundeskreises Reichsführer SS Heinrich Himmler “, Zwangsarbeiterausbeuter und skrupelloser Aktienbesitzer.
Notabene: Es war eine Befreiung, die zu einem großen Teil von außerhalb betrieben worden war. Die Schule selbst versuchte sich in einer Art Spagat des „Sowohl-als-auch“. Und nach Ansicht unbelehrbarer Ortsansässiger war (und ist vermutlich auch heute noch) der „Alte Fritz“ der „große Sohn Kreuztals“ im Lodenmantel, mit dem man auch gerne einmal ein Butterbrot geteilt hätte.   

Friedrich FLICK war nie Vorbild, er ist keines und sollte möglichst nie eines werden!

Es sei denn für ausschließlich an der eigenen Profitmaximierung interessierte Börsenjobber und Finanzjongleure, denen das Wohl der Allgemeinheit einen feuchten Kehricht wert ist. Über die Folgen ihres Wirkens kann sich jeder aktuell tag-täglich in der Tagesschau informieren.

WALTER KRÄMER hingegen war, ist und bleibt ein Vorbild für alle Menschen!

Er war fleißig und strebsam, hilfsbereit und tatkräftig – Für ihn galt das Motto „Hällob zogepackt!“. Wir konnten diese Aufforderung letztens auf den regionalen Wahlplakaten einer der Parteien lesen, die ihn im Siegener Rat eigentlich schon, aber dann doch so auf diese Art und Weise sic rebus standibus nicht wieder so recht meinten ehren können zu dürfen.

Walter Krämer war politisch-gesellschaftlich engagiert, bildungsorientiert, ein wissensdurstiger Medizin-Autodidakt und –Innovator.

Er schaffte den Aufstieg vom schlichten Schlosser und einfachen Marinesoldaten zum Parteifunktionär und Landespolitiker. Und schließlich, unter den unvorstellbaren Bedingungen eines deutschen Konzentrationslagers, zum faktischen Doktor der Medizin - ohne Promotion, aber seine „Doktorarbeit“ jeden miesen KZ-Tag neu gegen selbst-ernannte deutsche Herrenmenschen „verteidigend“. Er wurde ein Arzt, der den Eid des Hippokrates nie abgelegt hatte, ihn aber über alle Maßen erfüllte.

Walter Krämer besaß Organisationstalent und Mut ohne gleichen im ständigen Ankämpfen gegen die unberechenbare Willkürherrschaft im Lager. Er und andere Widerstandskämpfer tricksten oft erfolgreich die braunen brutalen Landsleute von der schwarzen SS aus.

Ein Beispiel aus dem Bericht des Internationalen Lagerkomitees Buchenwald von 1946:

„Um den erbärmlichen Zuständen in der Chirurgischen Abteilung abzuhelfen, baute man 1940/41 den sogenannten OP II mit Röntgenraum. Zu diesem Neubau, der überhaupt nicht genehmigt war und bis heute (1946, hwk) noch in keinem Plan steht, wurde von der SS kein einziger Ziegelstein bewilligt. Buchstäblich jedes einzelne Stück musste an den Außenstellen dem Kommando gestohlen und ins Lager gebracht werden.  Diese Baumaterialien gingen den Nazis auf solche Art für ihre Industrieunternehmungen verloren. Auch die Inneneinrichtung und alle Instrumente, vom Kleiderhaken bis zum Röntgenapparat wurde aus Häftlingsmitteln bestritten.“
(Eine für die Nachkriegszeit bezeichnende, heute etwas beklemmende Marginalie: Die mit zwei Klammern als Taschenbuch zusammen getackerte Originalausgabe aus dem Thüringer Volksverlag schreibt SS in Runenform!)    

Und dann war Walter Krämer auch noch „Sejerlänner“, 100% von hier! Daran erinnerte und dies belegte ausführlich noch einmal Krämer-Biograph Prof. Karl Prümm in seinem Vortrag im Aktiven Museum am letzten Sonntag.

Walter Krämer war und ist und bleibt ein Vorbild!

In der Facharbeit der Jahrgangstufe 12 einer Schülerin des GAM über den Umgang mit der NS-Geschichte in Siegen, in der sie sich zwangsläufig auch mit dem Gedenken an Walter Krämer ausführlich auseinandersetzt, heißt es 2004:

„Natürlich können sehr viele heute lebende Deutsche nicht verantwortlich für die Verbrechen der NS-Zeit sein, sie haben sie ja nicht miterlebt, bzw. waren Kinder oder Babies. Aber es waren Deutsche, die die KZs gebaut haben und die, ob nun wissentlich oder unwissentlich, gewollt oder ungewollt, für die Verfolgung und Vernichtung von Millionen Menschen (mit-)verantwortlich sind.
Die heute so viel zitierte und geforderte  Zivilcourage hat vielen anscheinend gefehlt. Und gerade daran sollte man sich meiner Meinung nach erinnern, damit die Wichtigkeit von Zivilcourage, Toleranz und einem "gesunden, kritischen Bewusstsein" deutlich wird und zeigt, wie weit es kommen kann, wenn diese nicht vorhanden sind.“

Der Kämmerer und erste Beigeordnete Reinhold Baumeister begrüßte am 22. 10. 2011 als offizieller Vertreter von Rat und Verwaltung der Stadt Siegen im KrönchenCenter die Teilnehmer unseres Symposiums „Leben im Widerstand“.
Er sagte über Walter Krämer: „Er war ein Mensch, der anderen half, zu einer Zeit und einem Ort, die von Entmenschlichung gezeichnet waren.“ Und Herr Baumeister fügte hinzu, Humanität kenne kein Parteibuch.

Der Politikwissenschaftler Dr. Ulrich Peters ist Autor eines (leider vergriffenen) Standardwerks zur  Geschichte des kommunistischen Widerstands in Buchenwald. Ausgehend von der Betrachtung der allgemeinen Lagergeschichte schilderte er ausführlich die positiven Folgen des bewussten Widerstands der Kommunisten für das gesamte Lager.

Am Ende seines Vortrages zitierte er den österreichischen Buchenwald-Häftling Benedikt Kautsky. Dieser bewertete 1946 das Handeln der politischen Häftlinge, die „in diesen Tagen (April 1945, hwk) in meisterhafter Weise Mut und Klugheit richtig mischend das Lager geführt und 21 000 Häftlingen das Leben gerettet haben. Ich als Sozialdemokrat lege auf diese Feststellung umso größeren Wert, als es sich in den verantwortlichen Stellen fast ausschließlich um Kommunisten handelte, die in vorbildlicher internationaler Solidarität allen Antifaschisten ohne Unterschied der Partei, der Nation oder Konfession ihre Hilfe zuteil werden ließen.“    

Das Fazit des Politikwissenschaftlers Peters:
„Die großen Verdienste der Kommunisten im Buchenwalder Widerstand sind historisch zweifelsfrei belegbar und bewiesen. Es gibt Verfehlungen einzelner, aber sie ändern daran nichts.
Was konkret Walter Krämer anbelangt, er war nicht nur ein standhafter Antifaschist und Retter für viele, sondern auch ein einwandfreier Charakter, von einer Größe, der viele nur nacheifern können. Man kann ohne Übertreibung sagen, Krämer war ein Pfundskerl und jemand, den man sich ohne Bedenken zum Vorbild nehmen kann.
Wer versucht, Walter Krämers Andenken in ein schlechtes Licht zu rücken, etwa mit der Begründung, er sei ja Kommunist gewesen bzw. mit der Begründung, er sei ja Anhänger einer totalitären Ideologie gewesen, setzt sich nicht nur über die Erkenntnisse der historischen Forschung hinweg, sondern verwehrt auch einem aufrechten Humanisten die verdiente Anerkennung. “

Den zweiten Schwerpunkt des Symposiums bildete der Vortrag von Prof. Dr. Kurt Pätzold. Der anerkannte Faschismus-Forscher ist nicht zuletzt Co-Autor einer wiederholt aufgelegten „Geschichte der NSDAP von 1920 – 1945“, in der es u. a. um die Rolle der Millionen Deutschen geht, ohne deren Tun und Lassen der Aufstieg der NSDAP-Führer in die Staatsmacht, der Weg in den Holocaust und in den Zweiten Weltkrieg nicht möglich gewesen wäre.

Prof. Pätzold fasste seine Ausführungen über „Die Massengefolgschaft und die Einsamkeit des Widerstandskämpfers“ so zusammen: „Die Geschichte des deutschen antifaschistischen Widerstandskampfes ist die Geschichte eines Wirkens unter den schwierigsten objektiven und subjektiven Bedingungen, und dass sie in so hohem Grade ein Opfergang wurde, ist eben diesen Bedingungen geschuldet gewesen. Sich den Reihen dieser Minderheit anzuschließen, dazu gehörten Charakter- und Überzeugungs- und ... zudem noch Glaubenskräfte.“

Unter Bezug auf den bekannten Martin-Luther-Spruch vom Apfelbaumpflanzen am letzten Lebenstag stellte der Historiker fest: „Die deutschen Widerstandskämpfer waren solche Pflanzer. Menschen wie sie werden im 21. Jahrhundert noch und mehr noch gebraucht.“

Für ihn liegt der Wert und die Notwendigkeit einer Erinnerung im öffentlichen Raum - in Siegen hier und jetzt also an Walter Krämer - darin begründet, dass ein erheblicher Teil der Menschen der Geschichte in der Landschaft, in der Stadt, dort wo man lebe und wohne, begegne und von dort die Anstöße beziehe.  

Heute vor drei Jahren gab es im Kreuztaler Stadtparlament eine Mehrheit über alle Parteigrenzen hinweg, die feststellte: Flick ist KEIN Vorbild!
In Siegen gilt immer noch das Prinzip Hoffnung und wir warten auch nach Jahrzehnten immer noch auf eine angemessene Würdigung unseres Vorbilds Walter Krämer.

Ich hoffe, unser Warten wird nicht ein „Warten auf Godot“.
Deshalb zum Schluss noch ein optimistisches Wort. Es stammt vom schon zitierten Stadtkämmerer Baumeister, der vor 14 Tagen meinte, „..., dass wir uns in dieser Debatte auf einem guten Weg befinden. Alles deutet darauf hin, dass eine einvernehmliche Lösung in Form einer Platzbenennung gefunden werden kann.“

Und ich füge hinzu, angemessene Würdigung heißt für uns, die VVN-BdA: Nicht versteckt  auf irgendeinem Gelände, sondern alltäglich präsent im Siegener Stadtbild und damit auch den hier lebenden und aufwachsenden Menschen jetzt und in Zukunft vertraut.

In der letzten Zeit haben sich auf mehreren Veranstaltungen im KrönchenCenter und im Aktiven Museum ausgewiesene Experten zur Erinnerungskultur in Siegen geäußert.
Alle Fachleute waren sich einig und haben zweifelsfrei belegt: Walter Krämer ist ein Vorbild, ein großer Sohn dieser Stadt, der endlich den Platz in der öffentlichen und offiziellen Erinnerung bekommen muss, der ihm zusteht

Das wäre jetzt eigentlich mein Schlusssatz gewesen, aber ich erlaube mir noch einen Zusatz, der mir auch ein persönliches Bedürfnis ist. (Und wer mich kennt, der weiß warum.)
Ich habe einige der Geschichtsexperten zitiert; zwei weitere möchte ich noch namentlich erwähnen, denn sie haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass in Siegener Stuben, Schulen und Zeitungen nicht mehr die Realität verbergend von der „dunklen Zeit“ geredet wird, wenn vom Faschismus im Siegerland die Rede ist:

Zum einen Dr. Ulrich Friedrich Opfermann, der nicht nur bedeutende Bücher schreibt, sondern sich und sein Wissen auch immer wieder in den erinnerungspolitischen  Auseinandersetzungen der Gegenwart bereitwillig zur Verfügung stellt.

Und natürlich vor allem Klaus Dietermann, dessen immense Verdienste hier niemandem mehr erklärt werden müssen. Klaus befindet sich zu dieser Stunde mit einer Siegener Gruppe auf dem Ettersberg und gedenkt dort Walter Krämers. Ich möchte ihn von hier, von der Grabstätte Walter und Liesel Krämers in der Hermelsbach aus, ganz herzlich grüßen.